Rezension (Essay)
Jens-F. Dwars: Wahnsinn Liebe?
In: Palmbaum, Literarisches Journal aus Thüringen (Jena), 1/2015, S. 166-167
Merkwürdiges geschieht in der Goethe-Welt: Während die Germanistik zum Alten vom Frauenplan kaum noch etwas zu sagen hat und das Goethe-Nationalmuseum zum Kuriositätenkabinett verkommt, wo die Kids am PC fröhlich mit Faust-Zitaten spielen, während deren Lehrer glauben, sie hätten dadurch irgendetwas begriffen, bemächtigen sich Juristen des Großdichters und meinen, uns immer neue Geheimnisse aus seinem Leben und Werk offenbaren zu müssen. Nachdem der Jurist Ettore Ghibellino uns verriet, dass Goethe nur eine wahre Geliebte hatte, die höchste Frau des Herzogstums, kommt nun der Familienanwalt Veit Noll und behauptet im einzig dazu gegründeten „Forschungsverlag“ Salzwedel das genaue Gegenteil. Anna Amalia habe durchaus Gefallen an dem Jungstar gefunden und ihm entsprechende Signale ihres Begehrens gesandt, doch hätte dies Goethes Treue zu Charlotte von Stein nicht zu trüben vermocht. Mehr noch: Goethe habe mit der Freifrau ein neues Leben beginnen wollen, wohl gar in Amerika, da die Angebetete dies jedoch als „Wahnsinn der Liebe“ abgelehnt habe, sei Goethe nach Italien geflohen, dabei auch Anna Amalias Gelüsten ausweichend, indem er seine Reise vorzeitig abbrach, um nicht mit ihr in Rom zusammenzutreffen. Ich verkürze, zugegeben, doch auf diese dürre Botschaft läuft das fast 400-seitige Buch hinaus.
Woher der Autor das alles weiß? Er hat tatsächlich geforscht, hat Archivakten gewälzt und alte Bilder mit dem Spürsinn des wahrheitsuchenden Juristen neu gesichtet. Im Ernst: Diese Entdeckerlust ist faszinierend. Auch Ghibellino hat ja nicht in den Tag hinein fabuliert, sondern handfeste Widersprüche entdeckt. So wenig mich seine eigenen Antworten überzeugen, so anregend waren doch seine Sachfragen. Und wo sie zu wirklicher Forschung, zu Neusichtung des scheinbar ausinterpretierten Materials führte, da waren seine Thesen auch produktiv.
Wie bei Veit Noll. Auch er kennt keine Ehrfurcht vor der erschlagenden Fülle der bisher für sakrosankt erklärten Goethe-Literatur, in der noch jeder vom anderen abgeschrieben hat. So stößt er auf interessantes Material: Etwa ein mehrfach übermaltes Deckengemälde in Anna Amalias Wittums Palais, von dem ein Foto um 1942/43 nahelegt, dass es einmal einen Mann mit zwei Frauen dargestellt habe. Goethe zwischen Anna Amalia und Frau von Stein? Auch das Programmheft der Posse Minervens Geburt, die Anna Amalia 1781 zu Goethes Geburtstag aufführen ließ, ist bemerkenswert. Zahlreiche weitere Detailfunde geben im besten Sinne des Wortes zu denken. Störend und mehr noch auf Dauer ermüdend ist nur das immer gleiche Verfahren, solche Funde als Indizien für den Beweis einer vorausgesetzten These zu werten.
Das aber ist das Denken des Juristen: um Schuld oder Unschuld zu beweisen, sucht er einzig und allein nach Belegen für seine These. Alles andere interessiert ihn nicht. Das Werk selbst, die Schönheit der Sprache, die Kraft der Verdichtung, die gerade darin besteht, dass sie sich einer eindimensionalen Deutung entzieht – alles das gerät aus dem Blick. Und das ist der Grund, warum mich wiederum solche Thesen wenig interessieren. Ich lese lieber Goethe. Und wen er geliebt hat, mit dem Herzen und mehr, das ist mir egal. Ich hoffe nur, er hatte seine Freude daran.