Veit Noll: Goethe im Wahnsinn der Liebe II. Bd. 1: Die Flucht 1786.
Die Liebe von Goethe und Charlotte von Stein ist in der wissenschaftlichen Forschung unstrittig.
Andererseits konstruiert E. Ghibellino aus Bildern, der Literatur und der substanzlosen Behauptung, die Briefe Goethes an Charlotte von Stein seien tatsächlich an Anna Amalia gerichtet, eine gegenseitige Liebe von Goethe und Anna Amalia. Zu Recht wird sein Vermeinen von der wissenschaftlichen Forschung abgelehnt.
Die Untersuchung der Situation um Goethe, Charlotte von Stein und Anna Amalia durch Veit Nolls Buch Goethe im Wahnsinn der Liebe, beginnend mit einem ersten Aufsatz 2009 und einer neuen, weitergehenden Buchpublikation 2014 (Bd. 1 von 4 Bänden) lassen sogar Ghibellinos Lieblingsidee zerfallen und weisen in eine neue, bisher allgemein nicht beachtete Richtung.
Was sich am Anbeginn 1775/76 in Weimar zwischen Anna Amalia und Goethe im Einzelnen zutrug, bleibt im Dunkeln, jedoch sind nachhaltige Bestrebungen von Anna Amalia nach Goethe bereits um diese Zeit und dann über das erste Weimarer Jahrzehnt nachweisbar. Allerdings verliebte sich Goethe in Anna Amalias frühere Hofdame Charlotte von Stein, eine verheiratete Frau.
Daraus ergibt sich eine Doppelkonstellation. Goethe wehrte über die Zeit Anna Amalias Zuneigung und Bestrebungen nach ihm ab und versicherte dagegen Charlotte von Stein in vielfältiger Form seiner Liebe.
Die Wahrung der Ehe durch Charlotte von Stein – Ehebruch war eine schwere Straftat – stand aus Eigeninteresse durchaus unter der besonderen Obacht der Fürstin. Charlotte von Stein erwiderte Goethes Liebe, musste sich aber bei Strafe des Untergangs an ihre Ehe halten.
Die Untersuchung Goethe im Wahnsinn der Liebe gelangt anhand eines Bekenntnisses von Goethe, seiner Briefe und seines Verhaltens zu der Auffassung, dass Goethe 1786 ursprünglich mit Charlotte von Stein und Fritz von Stein aus Weimar entfliehen und `ohne Stand und Namen´ in der freien Welt leben wollte. Charlotte von Stein lehnte ab, musste bei tiefer Gegenliebe aus inneren, persönlichen und familiären Gründen ablehnen. So wandelte Goethe seine Flucht in die Reise nach Italien, nach Rom, um. Den Zurückgebliebenen, vor allem Charlotte von Stein und ihrem Sohn Fritz von Stein, war unbekannt, wohin und wie lange Goethe sich entfernte. Charlotte von Stein nahm an, auf ewig. In Anbetracht von Goethes Schweigen über sein Wegbleiben, wenigen, schleierhaften Briefen von unbekanntem Ort und ihrer Unkenntnis der von Goethe für sie geschriebenen Reisetagebücher bis Dezember 1786 wird die von ihr empfundene Frustration verständlich. Sie war der Meinung, er habe sie mit ihrer Absage nun auf immer verlassen (vgl. An den Mond nach meiner Manier). Goethe seinerseits fügte sich auf der Reise wieder in das `platonisch liebende Verhältnis´ und rang um ihre Liebe, wie den Reisetagebüchern zu entnehmen ist. Auch kann es nahezu als gesichert gelten, dass Charlotte von Stein den Wunsch von Goethe nach Sinnlichkeit, nach der der Liebende auch immer wieder strebte, nicht gewähren ließ, nicht zulassen konnte. Dies ergibt sich sowohl aus den Ausführungen zu den harten, zeitgenössischen Strafregeln bei Ehebruch als auch der Konkurrenzsituation der achtgebenden, nach Goethe strebenden Fürstin Anna Amalia und späterhin zu erörternden Argumenten. Eine Ehescheidung war für Charlotte von Stein undenkbar und unpraktikabel, sie hatte als adelige Frau ihre entscheidende eheliche Aufgabe mit der Geburt mehrerer Kinder erfüllt – da kam eine Ehescheidung nach zeitgenössischem Recht nur aus höchst bösartigen Gründen mit entsprechendem, zehrenden Verfahren in Betracht. Nichtharmonie der Ehegatten oder die Liebe zu einer anderen Person reichten für eine Ehescheidung nicht aus. Eine Ehe wurde nach dem christlichen Gebot auf `Lebenszeit´ geschlossen. Die Liebe hatte der Ehe zu folgen – nicht die Ehe der Liebe. Ehescheidung oder Ehebruch hätten im Übrigen in der absolutistischen Gesellschaft ganz erhebliche Nachteile für die Reputation sowohl der Steinschen Familie, einschließlich ihrer Kinder, als auch ihrer Herkunftfamilie von Schardt bewirkt. Charlotte von Steins Verhalten ist demnach keine persönlich-psychologische-sinnliche Kälte, sondern kopfgesteuerte Anpassung an das gesellschaftliche Gebotene.
Goethe im Wahnsinn der Liebe analysiert des weiteren, wie Goethe sein Konfliktverhältnis in Bezug auf Charlotte von Stein und Josias von Stein in der Iphigenie reflektiert. In diesem wird sowohl Charlotte von Steins Bekenntnis zur Ehe als auch Josias von Stein – eben nicht gleichgültige – Akzeptanz eines freundschaftlichen Verhältnisses von Goethe und Charlotte von Stein verständlich. Augenscheinlich kannte er in diesem Zusammenhang die Briefe Goethes an seine Ehefrau nicht.
Die Flucht 1786, die zur Italienreise wurde, war demnach keine Entfernung von der Liebe zu Charlotte von Stein, um die er nach seinem für sie geschriebenen Reisetagebuch auf dem Weg nach Rom immer wieder rang. Es deutet sich vielmehr eine Flucht vor der Zuneigung von Anna Amalia an. Als Anna Amalia den Wunsch hegte, Goethe nachzureisen und mit ihm in Rom zu verweilen, ersuchte dieser den Herzog Carl August mehrfach, eindringlich und sprachlich prononciert, ihn vom Dienst an seiner Mutter zu entbinden. Diesem Streben der Fürstin nach dem gemeinsamen Aufenthalt in Italien hielt Goethe ausdrücklich entgegen, dass er diese Reise unternahm, um sich von den `physisch-moralischen Übeln´ in Weimar freizumachen. Indirekt gesagt, würden diese mit Anna Amalia und einem erzwungenen gemeinsamen Aufenthalt nach Rom kommen. So begab sich Goethe nach Weimar zurück, entgegen der Legende, nicht weil Carl August ihn nach langem Urlaub zurückbeorderte, sondern, weil Goethe der angenommenen baldigen Anreise von Anna Amalia entgehen wollte. Und als Anna Amalia dann von Weimar nach Rom aufbrach und den gerade vor weniger Zeit angekommenen Goethe wieder mitnehmen wollte, weigerte er sich unter tiefen inneren Schmerzen, den ihm angebotenen Platz in der Kutsche der Fürstin nach Rom anzunehmen. Der erst bürgerliche, dann in den jungen Beamtenadel erhobene Favorit Goethe hatte ein Problem: Der strebenden, liebenden Neigung der Fürstin zu ihm musste er sich aus Gründen entziehen, auch wenn zärtliche Sinnlichkeit mit einer Schönen angenehm ist.
In der Mannigfaltigkeit des Geschehens, Schreibens und Dichtens des Juristen Dr. Goethe stellt Veit Noll die Situation dar und belegt dies mit Quellen, die durchaus gewichtet werden. Zeitgenössische Bilder visualisieren Goethes Denken und Dichten. Mondgedichte sind unter dem persönlichen Bezug und dem Zeitbezug beigefügt und offenbaren Unerwartetes, mithin bis dahin in der Abstraktheit Unentdecktes.